Hochgeschwindigkeitszüge in Russland
Auch die damalige Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) nahm in den Sechzigerjahren Notiz von den Shinkansen bullet trains, die mit bis zu 210 km/h zwischen Tokio und Osaka pendelten und ein voller Erfolg wurden. Zu jener Zeit erreichten die Reisezüge in der Sowjetunion maximal 160 km/h. Meistens erlaubten die Gleisanlagen nur Geschwindigkeiten von 120 bis 140 Stundenkilometer.[1]
ER22: Prototyp mit Strahltriebwerken
Bereits 1970 arbeiteten die Bahnindustrie, die Staatsbahn der Sowjetunion (SŽD) und die sowjetische Eisenbahn-Versuchsanstalt zusammen an einem Superzug-Prototypen. Ein Triebwagen der Baureihe ER22 bekam aerodynamische Führerstände, neu entwickelte Drehgestelle und zwei äußerst auffällig montierte Düsentriebwerke, die den „Zug“ auf über 200 km/h beschleunigen sollten. Das Gefährt erinnerte etwas an den französischen Aerotrain, der zwar ebenfalls einen Düsenantrieb besaß, aber auf Luftkissen schwebte. Anders als man erwarten könnte, erreichte der ER22 1972 „nur“ 267 km/h, machte dafür aber jede Menge Krach. Die Ingenieure sahen ein, dass diese Entwicklung eine Sackgasse war und motteten das „turbojet train“-Projekt ein.[2]
ER200: Drei Triebwagenzüge für 200 km/h
Ein zweiter Versuch war der ER200, dessen Entwicklung nahezu parallel zum ER22 erfolgte. 1974 verließ der erste Triebwagenzug die Werkshallen und wurde ein Jahrzehnt lang ausgiebig getestet.[2] Der ER200 war für eine Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h gebaut und sollte ab 1978 die 650 Kilometer lange „Aurora“-Verbindung zwischen Moskau und Leningrad (heute: Sankt Petersburg) übernehmen. Geplant war eine Reisezeitverkürzung von 5 auf 4 Stunden.[3] Die ersten Planeinsätze erfolgten ab 1984 auf der ausgebauten Bahnstrecke zwischen Moskau und Leningrad. Technische Probleme machten die neue Baureihe zu einem unzuverlässigen „Hochgeschwindigkeitszug“.[2] Der Zug setzte den Schienen zu und die Stromabnahme war unbefriedigend. Deswegen wurde seine Höchstgeschwindigkeit im Fahrgastbetrieb, der einmal in der Woche stattfand, auf 180 km/h begrenzt.[1] Anfang der Neunzigerjahre entwickelten die Ingenieure zwei verbesserte Versionen dieser Baureihe; sie gingen 1996 in den Plandienst. Erst 2009 wanderten die ER200 aufs Abstellgleis – verdrängt von „Sapsan“-Hochgeschwindigkeitszügen.[2]
Hochgeschwindigkeitszug-Prototyp „Sokol“
Nach den drei ER200-Triebwagenzügen entwickelten die Ingenieure aus verschiedensten Industrien Russlands einen neuen Prototyp. Der „Sokol“ (deutsch: Falke) genannte Triebwagenzug wurde zwischen 1997 und 1999 hergestellt. Er war für eine Geschwindigkeit von 250 km/h ausgelegt, die er aber offiziell nie erreichte. Aus den mit dem Versuchszug gewonnenen Erkenntnissen sollten bis zu 350 km/h schnelle Serienzüge entwickelt werden, die auf einer neuen Schnellfahrstrecke zwischen Moskau und Sankt Petersburg verkehren sollten.[4][5] Wegen vieler technischer Probleme und finanziellen Schwierigkeiten blieb es bei dem einen Testzug.[6]
Velaro-RUS: „Sapsan“-Hochgeschwindigkeitszüge von Siemens
Mitte der 2000er Jahre entschied sich Russland für Hochgeschwindigkeitszüge von Siemens. Die erste Bauserie umfasst acht Triebwagenzüge des Typs „Velaro RUS“ und wurde zwischen 2007 und 2009 hergestellt. Dabei handelt es sich um vier 10-teilige Zweisystemzüge für 25 kV 50 Hz Wechselspannung und 3 kV Gleichspannung sowie vier 10-teilige Einsystemzüge, die nur unter 3 kV Gleichspannung eingesetzt werden können.[7] Im Vergleich zum ICE 3 besitzen sie Breitspurdrehgestelle, haben eine größere Wagenbreite und wurden an die klimatischen Bedingungen Russlands angepasst.[8] Eine zweite Serie, die zwischen 2012 und 2014 produziert wurde, umfasst acht Triebwagenzüge.[9] Im Sommer 2019 wurde die Herstellung von weiteren dreizehn 10-teiligen Velaro-Hochgeschwindigkeitszügen angestoßen, die nur unter 3 kV Gleichspannung verkehren können.[10] Die dritte Serie konnte wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine jedoch nicht vollständig an Russland ausgeliefert werden.[11] Vier Garnituren befinden sich bereits in Russland, fünf gerade im Bau befindliche Einheiten wurden fertiggestellt und eingelagert, die restlichen vier Züge hat Siemens nicht mehr gebaut.[12]
Allegro: Pendolini zwischen Sankt Petersburg und Helsinki
2001 gab es ein Abkommen zwischen Russland und Finnland für eine Schienenschnellverbindung zwischen Sankt Petersburg und Helsinki.[13] 2007 wurden vier siebenteilige Pendolino-Neigezüge bei Alstom bestellt, die ab 2010 im Plandienst standen.[14] Herkömmliche Züge benötigten bis zur Einführung des Allegro mehr als sechs Stunden Fahrzeit. Die bis zu 220 km/h schnellen Hochgeschwindigkeitszüge bewältigen die Distanz von 440 Kilometern in nur 3,5 Stunden.[13][15][16] Weil Russlands einen Krieg gegen die Ukraine begann, wurde Russland in vielerlei Hinsicht sanktioniert. Darunter fiel auch diese internationale Bahnverbindung. Ende März 2022 wurde der Allegro-Betrieb eingestellt.[16]
Züge und Strecken „Made in Europe“ oder China?
Bisher rollen ausschließlich Hochgeschwindigkeitszüge europäischer Hersteller in Russland. Doch auch China ist daran interessiert, ihre Superzüge in Russland zu etablieren. Am 25.06.2016 beispielsweise wurde ein Abkommen zwischen der Sinara Group und der China Railway Rolling Stock Corporation geschlossen, Superzüge für die Strecke Moskau – Kasan zu entwickeln. Um weitere wichtige Schienenverbindungen in Russland mit Hochgeschwindigkeitszügen abzudecken, ging man von einem Bedarf von 100 Garnituren aus.[17] 2017 bekräftigten die beiden Partner, sich um das rollende Material für die Route von Moskau nach Kasan zu kümmern.[18] Doch dann entschied man sich für die Zusammenarbeit mit Siemens, um Ultra-Hochgeschwindigkeitszüge zu entwickeln.[19] Seit dem Krieg gegen die Ukraine behindern Sanktionen die weitere Eisenbahn-Entwicklung in Russland. Es könnte daher sein, dass künftig China zum Partner wird, um gemeinsam ein Hochgeschwindigkeitsbahn-Projekt zu realisieren, das bereits 2014 angedacht war: eine Schnellzugstrecke von Beijing nach Moskau mit Hochgeschwindigkeitszügen und Schnellfahrstrecken „Made in China“ in Kooperation mit Russland.[20][21]
Sokol – Russland
Sapsan (Velaro RUS) – Russland
Allegro – Russland, Finnland
Quellenangaben
- Murray Hughes: „The second age of rail – a history of high-speed trains“, The History Press, Cheltenham, Gloucestershire GL 50 3QB, 2. Auflage 2020, S. 150–157.
- Thomas Estler: „Schnelle Züge weltweit“, Transpress Verlag Stuttgart, 1. Auflage 2011, S. 64–65.
- G. Freeman Allen: „Die schnellsten Züge der Welt“, Franckh’sche Verlagshandlung Stuttgart, 1978, S.72–73.
- „Sokol – Russlands neuer Hochgeschwindigkeitszug“, Eisenbahn-Revue International, 12/1999, S. 544–545.
- „The all-Russian high-speed train – World Report“, International Railway Journal, 08/2001.
- John Pike: „High Speed Rail“, Globalsecurity.org, 09.07.2018.
- „Jahr 1 des Wanderfalken“, Eisenbahn Magazin 3/2011, S. 76–77.
- „Velaro RUS Hochgeschwindigkeitszüge für die Russischen Eisenbahnen (RZD)“, Siemens Data Sheet Velaro RUS, 2010.
- „Russische Bahn bestellt weitere Hochgeschwindigkeitszüge bei Siemens“, Siemens Pressemitteilung, 19.12.2011.
- „Russian Railways orders high speed trains“, Railway Gazette International, 07.06.2019.
- „Russland: Siemens liefert Sapsan-Züge nicht aus“, Lok-Report, 23.03.2022.
- Thiemo Heeg, Ilka Kopplin: „Schnelle Züge, glänzende Geschäfte – Siemens und die ICEs“, FAZ, 03.08.2022.
- „Erster Highspeed-Zug quert finnisch-russische Grenze“, Spiegel Online, 13.12.2010.
- „Finnland > Die neuen ‚Allegro‘“, in: Thomas Estler: „Schnelle Züge weltweit“, Transpress Verlag Stuttgart, 1. Auflage 2011, S. 20.
- „From Saint Petersburg to Helsinki by Allegro Fast Train“, rail.cc, 03.06.2019.
- „Letzter Zug zwischen St. Petersburg und Helsinki“, NTV, 28.03.2022.
- „Sinara and CRRC sign Russian high speed train agreement“, Railway Gazette International, 15.07.2016.
- „CRRC and Sinara sign rolling stock joint venture agreement“, Railway Gazette International, 13.07.2017.
- „Siemens und Russische Eisenbahnen entwickeln Hochgeschwindigkeitszug“, EcoReporter.de, 23.11.2021.
- „China erwägt Hochgeschwindigkeitszug bis nach Moskau“, Spiegel Online, 17.10.2014.
- „China und Russland unterzeichnen Deal über Hochgeschwindigkeitszüge“, German.China.org.cn, 20.06.2015.