Automotrice Grande Vitesse (AGV) von Alstom in Frankreich
AGV Pégase (Prototyp) – 02/2008 © ALSTOM Transport / TOMA-C.Sasso
Planungen für einen TGV-Triebwagenzug
Die französische Staatsbahn SNCF benötigte für die damals künftige Neubaustrecke von Paris nach Straßburg neues Rollmaterial. Fortschritte in der Schienenfahrzeugindustrie legten die Neukonstruktion von noch moderneren, schnelleren TGV-Zügen nahe. Bereits 1995, auf der Eurailspeed in Lille, zeigte Alstom ein Modell eines TGV-NG (Nouvelle Génération). Dieser sollte mit 360 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit neue Maßstäbe setzen. Das Antriebskonzept (Triebkopf – antriebslose Mittelwagen – Triebkopf) wollte man beibehalten. Allerdings ließ sich die statische Achslast der Triebköpfe nicht weiter reduzieren.
Die SNCF und Alstom stellten daher Überlegungen zur Realisierung eines Hochgeschwindigkeits-Triebwagenzuges an – ein in anderen Ländern bereits erfolgreich erprobtes Konzept. Im September 1998 wurde in Paris-Bercy erstmals konkret der zukünftige AGV der Öffentlichkeit als gerendertes 3D-Modell vorgestellt. AGV steht offiziell, laut Hersteller, für „Automotrice Grande Vitesse“ (deutsch: Hochgeschwindigkeits-Triebwagen). Oft wird AGV aber auch mit „Automotrice à Grande Vitesse“ wiedergegeben. Der über den ganzen Zug verteilte Antrieb sollte eine Höchstgeschwindigkeit von 350 km/h ermöglichen. Man versprach sich vom TGV-Zug der vierten Generation neben den niedrigen Achslasten eine bessere Aerodynamik, geringere Lärmemissionen und eine ruhigere Fahrt.
Zweiteiliger AGV-Prototyp „Elisa“
Der erste Prototyp für einen zukünftigen AGV verließ 1998 die Werkhallen von Alstom. Der überwiegende Teil der Komposition bestand aus einem herkömmlichen TGV-Réseau-Triebkopf mit vier TGV-Réseau-Mittelwagen. Nur der fünfte Mittelwagen und der anschließende Endwagen waren eine Neukonstruktion im AGV-Stil. Es folgten ausführliche Tests mit den neuen Komponenten, wie Stromabnehmern, Motoren und deren Belüftung, der aktiven Federung und der berührungsfreien Wirbelstrombremse. Noch im Mai 2002 war dieser Versuchszug auf französischen Gleisen anzutreffen. Nach dem Testparcours sollen die beiden AGV-Wagen für einen Crashtest geopfert worden sein.
Die französische Bahngesellschaft SNCF als Großkunde des Alstom-Konzerns konnte zur damaligen Zeit jedoch keine große Begeisterung für das AGV-Konzept aufbringen. Sie errechnete, dass die Anhebung von 320 km/h auf 350 km/h auf der Neubaustrecke Paris – Straßburg einen Fahrtzeitgewinn von lediglich 8 Minuten einbringen würde. Dafür lohne sich keine Neuentwicklung. Aus Kapazitätsgründen wäre eine Doppelstock-Version des AGV interessanter gewesen. Doppelstockzüge sind jedoch trotz des technischen Fortschritts noch nicht als Triebwagenzug realisierbar, wenn man die Gliederzugbauweise mit Jakobsdrehgestellen beibehalten möchte. Bereits nach kurzer Zeit wurde es rund um den AGV wieder ruhig und es sah so aus, als ob das AGV-Konzept wieder in der Schublade verschwunden war. Tatsächlich investierte die SNCF weiter in TGV-Duplex-Einheiten zur Kapazitätssteigerung auf der Schnellstrecke von Paris nach Marseille. Außerdem verfolgte man zur damaligen Zeit noch das ehrgeizige Ziel, einen einheitlichen, europäischen Hochgeschwindigkeitszug mit dem Namen „High Speed Train Europe“ herzustellen, der dem AGV vorzuziehen gewesen wäre.
Ein Meilenstein war der Juni 2004. In diesem Monat wurde schließlich doch das AGV-Prototyp-Programm gestartet. Zur Eurailspeed im November 2005 in Mailand wurde ein Modell des künftigen AGV präsentiert. Im Februar 2007 war der erste AGV-Wagen fertiggestellt.
AGV-Komponenten im Weltrekord-TGV
Als am 3. April 2007 der TGV-V150 mit 574,8 km/h einen neuen Weltrekord auf Schienen aufstellte, waren unter anderem Komponenten des AGV daran beteiligt. Die beiden Drehgestellte in der Zugmitte entsprachen der Technik, wie sie beim Triebwagenzug später einmal zum Einsatz kommen sollten. Von einem reinen AGV-Prototyp zu sprechen, wäre jedoch übertrieben, da sich der TGV-V150 auch aus herkömmlichen Triebköpfen und Doppelstockwagen zusammensetzte.
Siebenteiliger Prototyp „Pégase“
Am 5. Februar 2008 präsentierte Alstom Transportation einem ausgewählten Presse-Publikum in seinem Werk in La Rochelle (Frankreich) erstmals einen kompletten AGV. Mit der Präsentation des für 360 km/h ausgelegten Superzuges veröffentlichte der Hersteller auch einige Fakten. Die wichtigsten werden nachfolgend kurz erläutert.
Die Technik des AGV
Die herausragendste Neuerung ist natürlich die Antriebstechnik. An den Zugenden gibt es keine Triebköpfe mehr. Stattdessen werden die Antriebskomponenten unterflur über den gesamten Zug verteilt. Wie bei den TGV-Zügen stützen sich auch bei dem neuen Triebwagenzug die Wagenenden jeweils auf ein gemeinsames Fahrgestell. Gemäß Alstom ist der AGV damit der erste Serien-Hochgeschwindigkeitszug, bei dem einige dieser sogenannten Jakobsdrehgestelle motorisiert sind. Das war erst durch die Abkehr von Asynchronmotoren hin zu leistungsfähigen Permanentmagnet-Synchronmotoren möglich. Diese sind etwa ein Drittel leichter und kleiner. Trotzdem sind sie mit einer Leistung von 1 Kilowatt pro Kilogramm Motorenmasse äußerst kraftvoll. Eine elfteilige, 200 Meter lange Komposition wiegt mit 410 Tonnen Leergewicht zirka 70 Tonnen weniger als bei den Mitbewerbern.
Der siebenteilige Prototyp ist die kürzeste Variante des neuen Superzuges. Weiterhin ist es möglich, 8-, 10-, 11- und 14-teilige Einheiten zu bilden. Das Kraft-/Masseverhältnis bleibt jedoch bei allen Konfigurationen nahezu gleich. Bis zu drei siebenteilige oder zwei elfteilige AGV-Züge sind miteinander kuppelbar.
Für die Formgestaltung des AGV waren unter anderem Forschungsergebnisse aus der Luftfahrt verantwortlich, aber auch 20 Designer präsentierten vier Gestaltungsvorschläge. Nicht zuletzt legte Alstom selbst Hand an die Kopfform an, da der Zug diesmal von Alstom allein konstruiert wurde. Die Optimierung der Aerodynamik (spezielle Form der Endwagen, Verschalung der Drehgestelle) schlägt sich in der Geräuschentwicklung positiv nieder. Im Wageninneren ist der Zug bei 360 km/h nicht lauter als ein herkömmlicher TGV bei 300 oder 320 km/h. Zudem verbraucht ein AGV rund 15 Prozent weniger Energie als die Hochgeschwindigkeitszüge der Mitbewerber.
Die AGV-Züge entsprechen ab Werk vollständig den europäischen Anforderungen für den internationalen Einsatz (TSI: Technical Standard for Interoperability). Im Auslieferungszustand sind jedoch nur das European Train Control System (ETCS Level 2) und GSM-R für den nahtlosen internationalen Einsatz vorinstalliert. Zusätzliche Zugsicherungssysteme können problemlos nach den individuellen Bedürfnissen der Betreiber nachinstalliert werden. Zudem kommen die Züge mit vier verschiedenen Stromsystemen zurecht: Wechselspannungen mit 25 Kilovolt bei 50 Hertz und 15 Kilovolt bei 16,7 Hertz sowie Gleichspannungen von 3000 und 1500 Volt.
Der AGV soll im Vergleich zu anderen Superzügen im Betrieb auch zuverlässiger funktionieren. So besteht ein elfteiliger Zug aus sechs voneinander unabhängigen Antriebseinheiten, bei anderen Triebwagenzügen wären es nur vier. Fällt während der Fahrt eine aus, ist noch genügend Leistung für eine schnelle Weiterfahrt bis zur Reparatur möglich.
AGV-Neuerungen für Fahrgäste und Fahrer
Durch den Wegfall der Triebköpfe können die Fahrgäste nahezu über die gesamte Zuglänge verteilt sitzen. Je nachdem, aus wie vielen Wagen ein Zug besteht und wie die Sitze angeordnet sind, finden zwischen 250 und 650 Reisende Platz. In der Tat kann die Inneneinrichtung jederzeit flexibel an die Bedürfnisse von Betreiber und Fahrgäste angepasst werden. Alstom wirbt zudem mit einem neuen Fahrgast-Informationssystem. Hinter diesem Schlagwort verbirgt sich eine Standard-Netzwerkverbindung durch den kompletten Zug. Via IP-Technik können darüber Multimedia- und Verbindungsdaten transportiert werden. Optionale Komponenten wären Wi-Fi und Onboard-Internet. Natürlich wurde auch an Fahrgäste mit körperlichen Einschränkungen gedacht und die europäischen und Vorgaben für Barrierefreiheit berücksichtigt. Erwähnenswert sind an dieser Stelle die um 15 Prozent größeren Fenster im Vergleich zu den TGV, der einen Meter breite, großzügige Wagenübergang und der mit 2,75 Metern besonders breite Innenraum.
Selbst der Fahrer profitiert von den Neuerungen im AGV. Er ist nun noch besser bei Unfällen in seinem Cockpit geschützt. Die dreistufige Knautschzone absorbiert eine Aufprallkraft von bis zu 4,6 Megajoule. Das entspricht der Energie, die frei wird, wenn ein schwerer Lkw mit 110 km/h gegen eine Wand prallt. Die Struktur der Fahrerkabine und der gerundete Arbeitstisch entspringen den Erfahrungen mit Crash-Test-Dummys bei den AGV-Prototypen. Im Falle eines Unfalls steht dem Fahrer eine Außentüre im Bereich des Cockpits zur Verfügung. Selbstredend kommt die Sicherheit insgesamt auch den Fahrgästen zugute.
Der Geräuschpegel bei einer Geschwindigkeit von 330 Stundenkilometern soll im Fahrzeuginneren nur 78 Dezibel betragen. Alle Bedienelemente sind vom mittig angeordneten Sitzplatz gut zu erreichen. Selbst für einen potenziellen Beifahrer ist ein Sitzplatz vorgesehen. Ein weiteres Plus sind die benutzerfreundlichen Bildschirme für das moderne „Train Control and Monitoring System“ (TCMS).
AGV im Test
Im April 2008 wurde der im Februar vorgestellte AGV von La Rochelle via Deutschland ins tschechische Velim gebracht. Nach ersten umfangreichen Rollversuchen bis 200 km/h folgten im November des gleichen Jahres Testfahrten auf der Ligne à Grande Vitesse Est in Frankreich. Innerhalb von neuneinhalb Monaten legte der Prototyp 55.000 Kilometer zurück. 2009 kam der Zug wieder nach Velim, um Tests mit verschiedenen Stromsystemen durchzuführen.
Erster Plandienst des AGV ist in Italien
Italiens führende private Bahngesellschaft NTV orderte am 17. Januar 2008 – also noch vor der Vorstellung des Prototyps – 25 Züge. Von Dezember 2008 fertigte Alstom in La Rochelle (Frankreich) die ersten Garnituren. Im Juli 2009 startete man auch in Savigliano (Italien) die Produktion. Der erste Serienzug hatte im Dezember 2011 seinen Roll-out. Nun folgen die Zulassungsfahrten im italienischen Eisenbahnnetz. Der kommerzielle Dienst der Züge soll im Frühjahr 2012 auf den Strecken Turin – Salerno und Rom – Venedig starten. Siehe auch den Artikel über den .italo AGV auf dieser Website.
Zukunftsaussichten des AGV
Der Automotrice Grande Vitesse soll auch auf lange Sicht den Train à Grande Vitesse nicht ersetzen, sondern wird als ein weiteres, parallel existierendes Produkt vermarktet. Kaum als kompletter Zug vorgestellt, signalisieren erste Bahngesellschaften bereits ihr Interesse an dem Schienensprinter. Die Deutsche Bahn AG wird weitere Hochgeschwindigkeitszüge für den internationalen Einsatz benötigen und ist auch für die französische ICE-3-Alternative offen. Argentinien hat sich mündlich schon für den französischen Triebwagenzug entschieden, dessen Serienzüge als Rollmaterial für eine Neubaustrecke zwischen Buenos Aires, Rosario und Cordoba dienen werden.
Interne Links zum AGV
Zug- / Baureihenbezeichnung: | AGV (Automotrice Grande Vitesse) |
Einsatzland: | Frankreich |
Hersteller: | Alstom |
Anzahl der Züge: | 1 Zug |
Zugtyp: | Triebwagenzug |
Anzahl der Mittelwagen: | 5 Mittelwagen |
Anzahl der Endwagen: | 2 Endwagen |
Anzahl der Sitzplätze 1. / 2. Klasse / Restaurant: | --- / --- / --- (250 insg.) |
Inbetriebnahme: | 05.02.2008 (Rollout in La Rochelle, Frankreich) |
Stromsystem(e): | 25 kV / 50 Hz (Frankreich) 1,5 kV DC (Frankreich) 15 kV / 16,7 Hz (Deutschland) 3 kV DC |
Zugleitsystem(e): | u.a. ETCS |
Technisch zugelassene Höchstgeschwindigkeit: | 360 km/h |
Motoren: | Permanentmagnet-Synchronmotoren |
Antriebsleistung des Zuges: | 6.000 kW |
Jakobsdrehgestelle: | Ja |
Neigetechnik: | Nein |
Zug fährt auch in Traktion: | Ja |
Leergewicht: | 270 t |
Zuglänge: | 130 m |
Ausrangiert: | August 2009 |