Shinkansen Serie 0 – Japanischer Hochgeschwindigkeitszug der 1. Generation
Shinkansen Serie 0 als Kodama im Bahnhof Higashi-Hiroshima – 18.04.2008 © Wikipedia: ナダテ (CC BY 3.0)
Entwicklung der Baureihe 0
Für die neue Hauptstrecke (Shin Kan Sen) von Tokio nach Osaka musste Ende der Fünfzigerjahre eine von Grund auf neue Generation von Schienenfahrzeugen entwickelt werden. Bisher setzte die Bahngesellschaft „Japanese National Railways“ auf Elektro- und Dieseltriebzüge, die sich auf dem kapspurigen Netz bewährten. Weitere logische Argumente favorisierten ebenfalls das Triebwagenzug-Konzept. Ein über den gesamten Zug verteilter Antrieb erlaubt variable Zuglängen bei gleichbleibendem Kraft- / Masseverhältnis, also ohne Beeinträchtigung der Höchstgeschwindigkeit. Außerdem entstehen keine großen Zugkräfte im Zugverbund, was leichtere Wagenkonstruktionen erlaubt. Damit einher sind niedrige Achslasten und ein geringer Schienenverschleiß möglich. Aerodynamische Führerstände an den Zugenden wirken sich positiv auf den Energieverbrauch aus. Darüber hinaus müssen die Züge an Kopfbahnhöfen nicht wenden – natürlich zugunsten einfacherer Gleisanlagen. Die Tokaido-Strecke war die erste normalspurige Strecke in Japan, die auch noch komplett neu gebaut werden musste. Dementsprechend waren die Ingenieure kaum an Restriktionen gebunden. Fünf Sitzplätze plus Gang für die Standardklasse waren für einen wirtschaftlichen Betrieb der Hochgeschwindigkeitszüge gefordert worden. Die Fahrzeugbreite sollte üppige 3400 mm betragen.
Prototypen A, B und die Baureihe 951
Da man mit dem Shinkansen-Zugsystem technisches Neuland betrat und nicht auf Erfahrungswerte zurückgreifen konnte, beschaffte die Industrie im Jahr 1962 zwei Erprobungsträger: einen zweiteiligen Zug vom „Typ A“ und eine vierteilige Einheit mit der Bezeichnung „Typ B“. Je zwei Wagen bildeten dabei eine Antriebseinheit. Dabei wurden verschiedene Konstruktionsformen ausprobiert und zu ersten Gehversuchen auf Rollstände gebracht. Die Laufeigenschaften waren so hervorragend, dass bereits zu diesem Zeitpunkt die Serienzüge in Auftrag gegeben wurden. Im Februar 1963 erfolgten reale Einsatzszenarien auf der Tokaido-Strecke. Beide Erprobungsträger waren für 250 km/h ausgelegt, wobei der „Typ B“ bei Testfahrten 6 km/h mehr erreichte. Klimatisierte Innenräume, zwei unabhängige Bremssysteme, Monobloc-Räder mit hochverschleißfesten Laufflächen, unempfindliche Stromabnehmer mit geringem Spiel und luftgefederte Drehgestelle waren einige Highlights der Prototypen.
1969 stellten die JNR ein zweiteiliges Versuchsfahrzeug der Baureihe 951 auf die Gleise, um den Geschwindigkeitsbereich um 250 km/h auszuloten. Es basierte auf den Serienfahrzeugen der Serie 0; Änderungen fanden hauptsächlich im Bereich der Drehgestelle statt. Hydraulische Stoßdämpfer mit Schraubenfedern, gepaart mit einer Luftfederung konnten das Schlingern bei hohen Geschwindigkeiten wirksam kompensieren. Der Raddurchmesser wurde auf 1000 mm, die Motorleistung auf 250 kW angehoben, um problemlos in den höheren Geschwindigkeitsbereich vorzudringen. Am 24. Februar 1972 krönte eine Rekordgeschwindigkeit von 286 km/h die Versuchsfahrten. Dieser Prototyp ist bis heute erhalten geblieben.
Die Serienzüge der Baureihe 0 nehmen den Betrieb auf
Pünktlich zur Inbetriebnahme der Tokaido-Schnellfahrstrecke standen zum 1. Oktober 1964 die meisten der 360 bestellten Wagen zur Verfügung, aus denen zunächst zwölfteilige Kompositionen zusammengestellt wurden. Die Höchstgeschwindigkeit der 30 Züge lag während der ersten Betriebsjahre bei lediglich 210 Stundenkilometern. Man war eben vorsichtig im Umgang mit der neuen Technik und wollte sichere Betriebsbedingungen schaffen. Das gelang der JNR auch hervorragend, denn es kam zu keinen außergewöhnlichen, am Image kratzenden Ausfällen. Die Höchstgeschwindigkeit konnte jedoch in der ersten Zeit – vor allem im Vorlaufbetrieb ab dem 25. August 1964 – nur selten erreicht werden. Die Gleise mussten sich erst noch im Schotterbett festigen. Trotzdem war die Einführung des Shinkansen ein voller Erfolg: Binnen kurzem fuhr der Shinkansen in die Gewinnzone.
Von Anfang an bot die JNR zwei Zuggattungen an: Hikari (Licht) mit nur zwei Unterwegshalten und Kodama (Echo) mit Halt an jedem Bahnhof. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von rund 129 km/h benötigten die schnellsten Superexpresszüge für die 515 Kilometer lange Distanz nur vier Stunden und damit Zweieinhalbstunden weniger als auf der bisherigen Kapspurstrecke.[2] In späteren Jahren schrumpfte die Distanz auf 3 Stunden 10 Minuten.[3] Die Laufleistungen von 400.000 Kilometern pro Jahr waren beeindruckend.
Shinkansen-Netz
Technik der Serie 0 und nachträgliche Modifikationen
Die Baureihe 0 entsprach weitgehend den Prototypen. Ein 16-teiliger Zug bestand aus acht Antriebseinheiten à zwei Wagen. Jede Einheit wurde mit einem separaten Stromabnehmer mit Energie versorgt. Es lagen also immer acht Bügel am Fahrdraht an. Das sorgte nicht nur für hohen Verschleiß an der Oberleitung, sondern auch für jede Menge Lärm. Daher wurde nachträglich die Anzahl der Pantographen reduziert und zur Versorgung aller Antriebseinheiten eine Dachstromleitung installiert. Recht bald mussten weitere Züge bei der Industrie nachbestellt werden, um den Takt zu verdichten und genügend rollendes Material für die nächste Schnellfahrstrecke (Sanyo Shinkansen) zur Verfügung zu haben. Auch die Zuglängen variierten: Sechs-, acht-, zwölf- und sechszehnteilige Kompositionen passten sich der Kundennachfrage an.
Im Hinblick auf eine Steigerung der Höchstgeschwindigkeit auf 220 km/h wurden die nächsten Garnituren mit einer höheren Motorleistung ausgestattet, also 185 kW statt 170 kW pro Achse und Motor. Außerdem rüstete man die Baureihe 0 nachträglich mit Wirbelstrombremsen nach, die zunächst als drittes Bremssystem fungierten aber schließlich doch die Widerstandsbremsen komplett ersetzten. Mitte der Siebzigerjahre probierte die JNR kleinere Fenstergrößen aus, um Kosten beim Austausch zerkratzter Scheiben zu sparen. Da aber der finanzielle Vorteil ausblieb und die Kunden wenig Begeisterung aufbrachten, kehrte man wieder zu den dreifach verglasten, größeren Fenstern zurück.
Hohe Geschwindigkeiten erforderten ein neues Zugsicherungssystem. Entlang der Shinkansen befinden sich keine Lichtsignale. Die Geschwindigkeitsvorgaben erfolgten stattdessen mittels impulsmodulierter Niederfrequenz-Gleisstromkreise. Am Führerstand wurden die Informationen dekodiert, der Fahrer hatte damit einen Überblick über die vorausliegenden neun Kilometer. Aus 210 Stundenkilometern kam die Baureihe 0 mittels der elektrischen Bremse nach 4100 Metern zum Stehen.
Im Gegensatz zu europäischen Zügen war die Kopfform der Baureihe 0 ungewöhnlich. Sie war ein Kompromiss aus Aerodynamik und Pragmatik. Die parabolische Nase mit aufgesetztem Führerstand erinnerte an die Form einer Gewehrkugel, weswegen sich im Volksmund recht schnell der Begriff „bullet train“ etablierte. Die Notkupplung unter der „Frontschüssel“ lässt keine Mehrfachtraktion zu, sondern dient nur zum Abschleppen des Zuges.
Komfort für die Fahrgäste
Nicht von ungefähr kamen die Fahrgäste in Scharen in die Züge. Nicht nur die hohe Geschwindigkeit war attraktiv. Auch folgende, wegweisende Annehmlichkeiten sorgten für begeisterte Fahrgäste: bequeme, größtenteils in Fahrtrichtung drehbare Sitzplätze mit Neigungsmöglichkeit der Rückenlehnen, Vollklimatisierung, druckstabile Fahrgasträume, geschlossene WC-Systeme, separate Waschräume und ein Speisewagen waren damals State of the Art. In späteren Jahren kamen behindertengerechte Fahrzeuge der Serie 0 zum Einsatz. Selbstverständlich befanden sich auch Telefone an Bord, doch vor allem in Tunneln litt die Stabilität der Gespräche. Erst die moderne Funkelektronik in späteren Jahren brachte hier signifikante Verbesserungen. Von Anfang an befand sich auch ein Speisewagen im Zugverbund. Um die speisenden Gäste nicht zu stören, wurde der Mittelgang zu einem Seitengang umgebaut. Später fielen die meisten Speisewagen jedoch Büfettwagen zum Opfer. Dank der üppigen Wagenbreite von knapp 3400 Millimetern geht es selbst in der 2+3-bestuhlten „Ordinary Class“ recht komfortabel zu. Wer es bequemer mag und sich den Aufpreis leisten kann und möchte, fährt natürlich in der sogenannten „Green Class“ mit 2+2-Bestuhlung besser.
Flottenbestand der Serie 0 im Laufe der Betriebsjahre
1972 verfügte die Bahngesellschaft JNR bereits über 1140 Wagen der Baureihe 0, doch die Belastungen im Schnellverkehr begünstigten den fortschreitenden Verschleiß an den Zügen, weshalb erneut Nachbestellungen nötig wurden. Im März 1977 war der höchste Fahrzeugbestand zu verzeichnen, nämlich 2352 Wagen, was 147 Langzügen entsprach.[1] (Gemäß [3] waren es 2336 Wagen.) Doch nach neun weiteren Jahren setzte die gezielte Ausmusterung der alternden Flotte ein und machte nachfolgen Zuggenerationen Platz. Waren 1986 noch 2162 Wagen in Betrieb, schrumpfte der Bestand auf 1610 Exemplare im Jahr 1991, die dann durchweg zu 16-Wagen-Zügen formiert wurden.
Interessanterweise beschaffte die JR West – eine der durch Zerschlagung der JNR entstandenen Bahngesellschaften – noch 1988 sieben Sechswagenzüge. Im September 1999 schieden die letzten Garnituren der Baureihe 0 aus dem Plandienst der JR Central. 2008 verschwanden schließlich auch die letzten Exemplare der JR West von der Bildfläche — ein melancholisches Ende des Inbegriffs des Shinkansen „bullet train“, von dem letztendlich insgesamt 3216 Wagen hergestellt wurden.[3] Ein Zug ist der Nachwelt im Eisenbahnmuseum von Saitama erhalten geblieben.[4]
Interne Links zur Shinkansen-Baureihe 0
Zug- / Baureihenbezeichnung: | Baureihe 0 (Alle folgenden Angaben stützen sich auf eine 16-teilige Garnitur.) |
Einsatzland: | Japan |
Hersteller: | Nippon Sharyo Kawasaki Sharyo Kinki Sharyo Kisha Hitachi |
Anzahl der Züge: | 201 Züge |
Anzahl der Züge im Detail: | insg. 3216 Wagen |
Zugtyp: | Triebwagenzug |
Anzahl der Mittelwagen: | 14 Mittelwagen |
Anzahl der Motorwagen: | 16 Motorwagen |
Anzahl der Endwagen: | 2 Endwagen |
Anzahl der Sitzplätze 1. / 2. Klasse / Restaurant: | 132 / 1208 / --- |
Sitzplätze im Detail: | Angaben zu Sitzplätzen im Speisewagen sind nicht bekannt. |
Baujahre: | 1963–1988 |
Inbetriebnahme: | 25.08.1964 |
Spurweite: | 1435 mm |
Stromsystem(e): | 25 kV / 60 Hz |
Höchstgeschwindigkeit bei Versuchsfahrten: | 286 km/h am 24.02.1972 auf der Strecke Sanyo-Shinkansen |
Technisch zugelassene Höchstgeschwindigkeit: | 220 km/h |
Höchstgeschwindigkeit im Plandienst: | 220 km/h ( In den ersten Betriebsjahren 210 km/h ) |
Motoren: | 64 MT200A oder MT200B (Gleichstrom) |
Antriebsleistung des Zuges: | 11.840 kW ( 64 x 185 kW ) |
Beschleunigung des Zuges: | 0,28 m/s² |
Bremssysteme: | Widerstandsbremse Scheibenbremse Wirbelstrombremse |
Jakobsdrehgestelle: | Nein |
Neigetechnik: | Nein |
Zug fährt auch in Traktion: | Nein |
Radtyp: | Monobloc |
Anzahl der Achsen / davon angetrieben: | 64 / 64 |
Achsformel: | Bo´Bo´+Bo´Bo´+Bo´Bo´+Bo´Bo´+ +Bo´Bo´+Bo´Bo´+Bo´Bo´+Bo´Bo´+ +Bo´Bo´+Bo´Bo´+Bo´Bo´+Bo´Bo´+ +Bo´Bo´+Bo´Bo´+Bo´Bo´+Bo´Bo´ |
Federung: | Primär: Stahlfederung Sekundär: Luftfederung |
Länge / Breite / Höhe der Mittelwagen: | 24.500 / 3380 / 3975 mm |
Länge / Breite / Höhe der Endwagen: | 24.900 / 3380 / 3975 mm |
Achslast (maximal): | 16 t |
Leergewicht: | 967 t |
Zuglänge: | 400,3 m |
Ausrangiert: | 14.12.2008 |
Verbleib: | Eisenbahnmuseum in Saitama |
Quellenangaben
- Horst J. Obermayer: „Internationaler Schnellverkehr – Superzüge in Europa und Japan“, Franck-Kosmos Verlags-GmbH + Co., Stuttgart, 1994, S. 71–76.
- Murray Hughes: „Die Hochgeschwindigkeitsstory – Eisenbahnen auf Rekordfahrten“, Alba Publikation AIF Teloeken GmbH + Co. KG, Düsseldorf, 1994, S. 18–20, 106
- Dr. Helmut Petrovitsch: „Das Shinkansen-Hochgeschwindigkeits-Netz in Japan“, Eisenbahn-Revue International, 7/2002, S. 324, 325.
- „Railway Museum Omiya, Saitama“, Website abgerufen am 27.10.2024