Shinkansen Serie 100 – Hochgeschwindigkeitszug in Japan
Shinkansen Serie 100 – 2000 © Dave Fossett
Erst nach 20 erfolgreichen Betriebsjahren mit Shinkansen-Zügen der Serie 0 sah sich die japanische Staatsbahn JNR gezwungen, eine neue Generation von Schienenfahrzeugen entwickeln zu lassen. Zum einen hatte sich die Technik zwischenzeitlich enorm weiterentwickelt, zum anderen kam es in der Vergangenheit immer wieder zu massiven Protesten, weil die Züge sehr viel Lärm verursachten. Daher wurden die Umweltschutzauflagen verschärft, dessen Normen die alten Züge nun nicht mehr erfüllen konnten. Eine Erhöhung der Betriebsgeschwindigkeit mit den alten Fahrzeugen stand erst recht nicht zur Debatte.
Prototyp und Nummernschema
Zum 20-jährigen Jubiläum beauftragte die JNR ein Konsortium, bestehend aus Hitachi, Kawasaki Heavy Industries, Kinki Sharyo, Nippon Sharyo und Tokyu Car Corporation, mit der Herstellung eines Prototypen. Bereits 1985 verließ er die Werkshallen und stand ab April für Probefahrten zur Verfügung. Auf den Tokaido-Shinkansen waren problemlos 230 km/h möglich, auf der Sanyo-Strecke konnten gar 260 km/h erreicht werden. Im Herbst 1985 gab es grünes Licht für die Herstellung der Serienzüge – die sogenannte Baureihe 100.
An dieser Stelle ist es angebracht, etwas Licht ins Nummernschema zu bringen. Die Züge südlich von Tokio bekamen lange Zeit ungerade Nummern (0(!), 100, 300, 500, 700) und die Baureihen nördlich von Tokio gerade Nummern (200, 400). Daher darf man sich nicht wundern, warum die Baureihe 100 erst nach der Baureihe 200 konstruiert wurde. Im Oktober 1986 erzielte der Prototyp 319 km/h und bereits im folgenden Monat setzte die JNR die ersten fünf Serienzüge im Planverkehr ein.
Verbesserungen im Komfort
Als die neue Shinkansen-Serie 100 in den Bahnhof einrollte, fiel den wartenden Fahrgästen zuerst die aerodynamischere Nase auf. Zwar erinnerte die Kopfform weiterhin an ein Geschoss, allerdings war die Spitze länger und etwas nach unten geneigt. In Zugmitte befanden sich zwei Doppelstockwagen, die über die Zugsilhouette hinaus ragten. In einem konnten betuchte Reisende den Komfort der Green Class genießen – sei es in Abteilen für ein, zwei oder drei Personen für maximale Ungestörtheit, oder im Obergeschoss mit Ausblick über die Schallschutzwände. Der zweite Doppeldecker diente der Befriedigung der kulinarischen Bedürfnisse. Unten wurden die Mahlzeiten zubereitet, die man mit einem Speiseaufzug zu den hungrigen Passagieren brachte. Innerhalb kürzester Zeit erlangte das Restaurant große Beliebtheit, obwohl es auch am „Service am Platz“ nichts zu bemängeln gab. Vielleicht spielte ja der herrliche Ausblick aus den Panoramafenstern eine wichtige Rolle.
In einer 16-teiligen Baureihe 100 kommen 112 Reisende in der Green Class unter (besagter Doppelstockwagen plus ein einfacher Wagen) und 1153 Reisende in der Standard-Klasse. So eng es sich auch anhören mag: Der Komfort im Vergleich zu den Zügen der Serie 0 verbesserte sich gerade in der 2. Klasse erheblich. Geneigtere, jedoch nicht verstellbare Rückenlehnen und um sechs Zentimeter breitere Sitze mit 14 Zentimeter größerem Sitzabstand kamen vor allem bei nicht so zierlichen Asiaten gut an. Wer mochte, konnte die Zweier- bzw. Dreiersitzgruppen in Fahrtrichtung drehen. In den sanitären Bereichen steuerten Lichtschranken Wasserhähne und Handtrockner.
Mit der Serie 100 wurde zudem ein umfangreiches Fahrgastinformationssystem eingeführt. Es zeigte die Wagennummern, Innen(!)temperatur, Uhrzeit, den nächsten Bahnhof und dessen Entfernung an. Später kamen Nachrichtenthemen hinzu. Die aktuelle Geschwindigkeit war zuerst in jedem Wagen ablesbar, später nur noch in den Doppelstockwagen. Alles in allem konnte die JNR stolz auf ihr neues Flaggschiff sein. So wurde kräftig die Werbetrommel gerührt und vor allem der erhebliche Komfortzuwachs betont.
Weiterentwickelte Technik in der Baureihe 100
Natürlich beschränkte sich der Fortschritt nicht nur auf den Fahrgastbereich. Nun waren nicht mehr alle Achsen des Zuges angetrieben. In den Endwagen und den Doppelstockwagen verzichtete man zugunsten einer geringeren Achslast auf die Antriebskomponenten. Aerodynamische Optimierungen und das geringere Zuggewicht schlugen sich in einer um 17 Prozent günstigeren Energiebilanz nieder. Trotzdem konnten die Garnituren besser beschleunigen und waren technisch in der Lage, 260 Stundenkilometer zu erreichen. Im Prototyp fand eine neue Version einer Wirbelstrombremse Anwendung, die nicht mehr auf die Schienen einwirkte, sondern an den Achsen saß und die Bremsscheiben dem Magnetfeld aussetzten. Das Problem der Hitzeentwicklung soll wohl durch neue Materialien beherrschbar gewesen sein, doch inwieweit die Serienfahrzeuge nachträglich damit ausgerüstet wurden, ist unklar.
Die Shinkansen der Serie 100 im Betrieb
Im November 1986 rollte die neue Shinkansenzug-Generation an, die 1988 bereits 10 Züge umfasste und hochklassige Hikari-Kurse auf den Tokaido- und Sanyo-Shinkansen übernahm. Bis 1991 verließen insgesamt 1056 Wagen die Herstellerwerke, die zu 66 sechszehnteiligen Zügen formiert wurden. Doch noch im selben Jahr wurde die Produktion der neuen Shinkansen-Baureihe eingestellt. Die völlig neu konzipierte Baureihe 300 stand bereits in den Startlöchern. Gerne hätten die Bahnbetreiber die Höchstgeschwindigkeit auf 240 km/h erhöht, aber die scharfen Umweltschutzauflagen erlaubten nur einer Steigerung um magere 10 Stundenkilometer. Immerhin fiel nach 22 Betriebsjahren mit der Baureihe 100 eine Reise von Tokio nach Osaka endlich unter die magische 3-Stunden-Grenze – eine Grenze, bei der sich Reisende zugunsten der Eisenbahn entscheiden, anstatt das Flugzeug zu nehmen. Für die 1069 Kilometer lange Distanz zwischen Tokio und Hakata benötigten die schnellsten Läufe mit sechs Zwischenhalten fünf Stunden 57 Minuten.
Shinkansen-Netz
Varianten der Baureihe 100
Im Laufe der Jahre wurde die Serie 100 in verschiedene Untergruppen unterteilt:
Variante X: Der ehemalige sechszehn Wagen umfassenden Prototyp wurde nach den Tests zu einem normalen Zug umgebaut (Variante X0 bzw. X1). Die ersten 6 hergestellten Serienzüge ordnete man ebenfalls der Variante X zu. Sie waren die oben erwähnte Standardversion der Baureihe 100. Als älteste Fahrzeuge ihrer Gattung zog sich die Außerdienststellung von August 1999 bis Oktober 2000 hin.
Variante G: Hinzu kamen 50 sechszehnteilige Züge mit zwei Doppelstockwagen, wobei das Restaurant zugunsten einer Green-Class-Benutzung außen vor blieb. Statt einer Küche befand sich eine Selbstbedienungs-Cafeteria im Unterdeck. Die Züge wurden bis 2003 auf dem Tokaido-Shinkansen sowie bis 2004 auf dem Sanyo-Shinkansen eingesetzt.
Variante V: Neun sechszehnteilige Kompositionen mit vier Doppelstockwagen waren nach der Privatisierung der JNR als Baureihe 100N (Super-Hikari) im Einsatz. Um das Kraft- / Masseverhältnis beizubehalten, stattete man bei diesen Zügen die Endwagen mit Motoren aus. Die Züge erreichten eine Maximalgeschwindigkeit von 230 km/h. Doch zum Jahrtausendwechsel machte zuerst der Speisewagen dicht, im Mai 2002 wurde ihr Aktionsradius auf die Sanyo-Schnellfahrstrecke begrenzt. Zwei 16-Wagen-Züge wurden zu acht vierteiligen Garnituren umkonfiguriert, wobei die Endwagen wohl von den bereits ausrangierten Kompositionen anderer Varianten genommen wurden.
Variante P: Die zuvor genannten acht Vierteiler machten in den Jahren 2001 bis 2004 eine Generalüberholung durch, bevor sie auf der Sanyo-Schnellfahrstrecke im Kodama-Dienst rollten. Gleichzeitig bekamen sie eine neue Lackierung im Kodama-Design von JR West.
Variante K: In den Jahren von 2000 bis 2005 bildete man aus weiteren, früheren 16-teiligen Zügen der Variante V insgesamt zehn 6-teilige Garnituren der Variante K mit je sechs Wagen. Die Variante K wurde ab 12. Februar 2002 auf dem Sanyo-Shinkansen (ab 12. März 2011 nur zwischen den Bahnhöfen Okayama und Hakata) in Betrieb genommen. Bis März 2012 rollte auch diese Variante auf das Abstellgleis. Damit endete die Ära der Serie 100.
Zug- / Baureihenbezeichnung: | Baureihe 100 (alle folgenden Angaben beziehen sich auf die 16-teilige Variante X mit 2 Doppelstockwagen) |
Einsatzland: | Japan |
Hersteller: | Nippon Sharyo Kawasaki Sharyo Kinki Sharyo Hitachi Tokyu Car Corporation |
Anzahl der Züge: | 66 Züge |
Zugtyp: | Triebwagenzug |
Anzahl der Mittelwagen: | 14 Mittelwagen |
Anzahl der Endwagen: | 2 Endwagen |
Anzahl der Sitzplätze 1. / 2. Klasse / Restaurant: | 168 / 1153 / --- |
Sitzplätze im Detail: | Die Anzahl der Sitzplätze im Bordrestaurant ist mir unbekannt. |
Baujahre: | 1985–1988 |
Inbetriebnahme: | 1985 |
Spurweite: | 1435 mm |
Stromsystem(e): | 25 kV / 60 Hz |
Zugleitsystem(e): | ATC-1 |
Technisch zugelassene Höchstgeschwindigkeit: | 270 km/h |
Höchstgeschwindigkeit im Plandienst: | 220 km/h ( Variante V: 230 km/h ) |
Motoren: | 48 MT202 Gleichstrom-Motoren |
Antriebsleistung des Zuges: | 11.040 kW ( 48 x 230 kW ) |
Beschleunigung des Zuges: | 0,44 m/s² |
Bremssysteme: | u.a. Wirbelstrombremse |
Jakobsdrehgestelle: | Nein |
Neigetechnik: | Nein |
Zug fährt auch in Traktion: | Nein |
Anzahl der Achsen / davon angetrieben: | 64 / 48 |
Achsformel: | 2'2'+Bo'Bo'+Bo'Bo'+Bo'Bo'+ Bo'Bo'+2'2'+2'2'+Bo'Bo'+ Bo'Bo'+Bo'Bo'+Bo'Bo'+Bo'Bo'+ Bo'Bo'+Bo'Bo'+Bo'Bo'+2'2' |
Länge / Breite / Höhe der Mittelwagen: | 25.000 / 3383 / 4115 mm |
Länge / Breite / Höhe der Endwagen: | 26.050 / 3383 / 4115 mm |
Achslast (maximal): | 15 t |
Zuglänge: | 402 m |
Ausrangiert: | März 2012 |
Verbleib: | 5 Wagen (Mittel- u. Endwagen) sind erhalten geblieben |
Quellenangaben
- Horst J. Obermayer: „Internationaler Schnellverkehr – Superzüge in Europa und Japan“, Franck-Kosmos Verlags-GmbH + Co., Stuttgart, 1994, S. 78, 79.
- Murray Hughes: „Die Hochgeschwindigkeitsstory – Eisenbahnen auf Rekordfahrten“, Alba Publikation AIF Teloeken GmbH + Co. KG, Düsseldorf, 1994, S. 109–111
- Dr. Helmut Petrovitsch: „Das Shinkansen-Hochgeschwindigkeits-Netz in Japan“, Eisenbahn-Revue International, 7/2002, S. 325, 326.
- „100 Series Shinkansen“, englischsprachige Wikipedia, abgerufen am 10.07.2014.
- „Shinkansen-Baureihe 100“, deutschsprachige Wikipedia, abgerufen am 10.07.2014.